Beispiel: Personal- und Possessivpronomen
Beispielsätze
Wortschatz


Ich han en Hund. Häsch du es Huustier?Ich habe einen Hund. Hast du ein Haustier?
Ja, hani.Ja, habe ich.
«Ich» oder «i»? Wie sagt man nun «ich» auf Schweizerdeutsch?

Als ich in der fünften oder sechsten Klasse war, hat mein Deutschlehrer mal folgenden Satz gesagt: «Langsam, laut und deutlich! Richtiges Deutsch zeichnet sich dadurch aus, dass jeder einzelne Buchstabe richtig artikuliert wird. Immer!» Den Satz hat er besonders loriothaft ausgesprochen. Folglich habe ich den nie mehr vergessen, und als Schüler habe ich auch gedacht, das sei die einzig richtige Art, Deutsch zu sprechen.

Doch das gilt nur für die idealisierte Standardsprache. Die Realität ist, dass die Leute im Alltag eben nicht perfekt artikulieren. Auch der «Hochdeutschsprecher» sagt mal «Ds hamma schon.» statt idealisiert korrekt «Das haben wir schon.» Und keinem, der das hört, fällt das als falsch auf.

Es ist auch nicht wirklich falsch. Phänomene wie Vokalreduktion kommen in vielen Sprachen vor [1, 2, 8], und in manchen Sprachen sind sie sogar Teil der Standardsprache. Nicht selten erkennen Englisch-Muttersprachler einen Non-Native genau daran, dass dieser «zu perfekt» artikuliert.

Vokalreduktion bedeutet, dass Vokale in unbetonten Silben anders ausgesprochen werden als in betonten Silben, nämlich «weniger genau». Die Vokalreduktion kommt auch im Standarddeutschen vor. Vater liest man nämlich [ˈfaːtɐ] statt [ˈfaːter]. Irgendwann in der Geschichte hat das e in Vater an Qualität verloren, und das r ist komplett verschwunden. Der Qualitätsverlust ist schliesslich als richtig akzeptiert worden: so sehr, dass Deutsche es generell als falsch empfinden, wenn jemand [ˈfaːter] sagt.

Was es auf StdDt nicht gibt ist ein dynamisches Phänomen, wodurch das gleiche (einsilbige) Wort anders ausgesprochen wird, je nachdem, ob das Wort im Satz betont oder unbetont ist. Das heisst, in manchen Sprachen gibt es einsilbige Worte in zwei Versionen: die betonte Version des Wortes nennt man Starktonform, die unbetonte dagegen Schwachtonform [3]. Achtung: den Unterschied gibt es generell nur in der Aussprache, nicht in der Schrift!

Alemannisch1Schweizerdeutsch ist Alemannisch! S. hier. gehört zu den Sprachen, die dieses dynamische Phänomen kennen. Standardenglisch genau so, und bevor wir uns CHDt wenden, möchte ich ein Beispiel aus dem Englischen zeigen, weil es den meisten wahrscheinlich schon bekannt ist:

That is a [ə] cat.Das ist eine Katze.
I don’t mean that cat. I mean a [eɪ] cat.Ich meine nicht die Katze, sondern eine (irgendeine) Katze.

Im ersten Satz, in dem der Artikel a nicht betont ist (weil das Wort Katze das zentrale Element der Aussage ist), liest man a wie [ə], also wie ein kurzes zentrales e (Schwa [4]), etwa wie das e in CHDt guet (gut). Im zweiten Satz, in dem der Artikel a betont ist (weil die Klarifizierung, dass es sich um eine, und nicht um die Katze handelt, die zentrale Aussage ist), wird das a dagegen wie [eɪ] gelesen, also so wie der Buchstabe A im englischen Alphabet heisst.

Das gibt es auf Schweizerdeutsch auch:

Ich han en Hund. Häsch du es Huustier?
Ja, hani.

Im zweiten Satz, in dem das Wort Ja zentral ist, wird das ich reduziert und mit dem vorangehenden ha zu hani verschmolzen. Warum das n da ist, wird hier erklärt.

¹Schweizerdeutsch ist Alemannisch! S. hier.

Beispiel: Personal- und Possessivpronomen

Possessivpr.
Nom.Akk.Dat.Nom. / Akk.
iich
ich / i
miich
mi
miir
mer
miin, miis, miini
min, mis, mini
duu
du / d
diich
di
diir
der
diin, diis, diini
din, dis, dini
eer
er
in
en
im
em
siin, siis, siini
sin, sis, sini
sii
si
sii
si
ire
ir / ere
ire, ires, iri
ir, irs, iri
ees
es / s
ins
s
im
em
siin, siis, siini
sin, sis, sini
miir
mir / mer
ois2Auch eus geschrieben. / öis
ois / is
ois / öis
ois / is
öise, öises, öisi
oise, oises, oisi
iir
ir / er
öi
öi / i
öi
öi / i
öie, öies, öiri
öie, öies, öii
sii
si
sii
si / s
ine
ine / ene
ire, ires, iri
ire, ires, iri
Starktonformen in Fettschrift (obere Zeile),
Schwachtonformen in Normalschrift (untere Zeile)
²Auch eus geschrieben.

Am Beispiel der Personal- und Possessivpronomen ist leicht zu erkennen, dass die Qualität der Vokale degradiert wird, wenn diese Worte unbetont sind. Fast alle Starktonformen haben lange Vokale, während alle Schwachtonformen kurze Vokale haben. Bei iich oder miich wird nicht nur der Vokallaut verkürzt, sondern der ch-Laut verschwindet auch. Bei öis oder öi degradiert sich der (schwer auszusprechende) Diphtong öi zum einfachen Vokal i. Und bei den Dativ-Formen miir, diir und im, vereinfacht sich das lange oder kurze i zu e.

Wieso ist das /e/ einfacher als das /i/? Wegen der Zungenposition. Das /e/ wird als [e] oder [ə] realisiert. Das sind zentrale Laute; das heisst die Zunge befindet sich im Zentrum des Mundes, und damit ist sie eher relaxiert als bei den Lauten [i​ː] oder [ɪ]3Wer mehr darüber wissen möchte, sollte über das Vokaltrapez [5, 6, 7] lesen..

In jedem Fall sehen wir, dass es eine natürliche Tendenz gibt, «sich weniger Mühe» zu geben, wenn man Worte ausspricht, die eine weniger wichtige Rolle im Satz spielen. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang.

Zurück zu den Personal- und Possessivpronomen: es ist zu bemerken, dass die Doppelvokalschreibweisen sehr selten zu sehen sind. In den Tabellen hier und hier gebe ich diese Schreibweisen der Einfachheit halber auch nicht an. Jedoch sollte man sich merken, dass es in der Aussprache definitiv einen Unterschied ausmacht, ob diese Worte betont oder unbetont sind.

³Wer mehr darüber wissen möchte, sollte über das Vokaltrapez [5, 6, 7] lesen.

Beispielsätze

In der folgenden Tabelle werden noch die Schreibweisen mit Doppelvokal verwendet, um den Unterschied zwischen betonten und unbetonten Formen deutlich zu machen. Später in diesem Blog werde ich der Einfachheit halber nur die Schreibweisen mit Einfachvokal verwenden.

unbetontbetont
Ich bi de Ueli.Mini Schweschter trinkt nöd gärn Milch, iich scho.
Min Brüeder frägt mi öppis.Frägsch du miich?
Das isch mer gliich.Miir isch das gliich..
Ich suech di scho lang.Diich suech i!
I säge s der nöd.Ich säge s nume diir!
Er isch de Brüeder vom Ueli.De Ueli isch blond, eer nöd.
Mer gseet si nöd vil i der Stadt.Sii gseet mer mee bim Wandere.

Wortschatz

de Brüederder Bruder
d Schweschterdie Schwester
öppisetwas
gliichgleich, egal
suechesuchen
sägesagen
numenur
nümenicht mehr
meemehr
merman

Quellen

  1. Unstressed Syllables in English Phonology
  2. Stress and vowel reduction in English
  3. Schwachtonform
  4. Das Schwa
  5. Das Vokaltrapez
  6. Vowel diagram
  7. The International Phonetic Alphabet
  8. The English Language, by David Crystal